BGH-Urteil vom 05.07.2017 – IV ZR 121/15

1. § 213 VVG steht der Zulässigkeit so genannter allgemeiner Schweigepflichtent- bindungen nicht entgegen. Der Versicherer darf im Rahmen seiner Leistungsprüfung dem Versicherten die Erteilung einer solchen Erklärung aber regelmäßig nicht abverlangen (Fortführung des Senatsurteils vom 22. Februar 2017 – IV ZR 289/14).

2. Auch nach Inkrafttreten des § 213 VVG ist in Fällen der Datenerhebung ohne ausreichende Rechtsgrundlage, insbesondere bei Nichtbeachtung der Vorgaben des § 213 Abs.2 Satz 2, Abs.3 und 4 VVG, sachlich-rechtlich zu prüfen, ob der Versicherer nach § 242 BGB gehindert ist, sich auf die Ergebnisse seiner Ermittlungen zu berufen und insbesondere darauf gestürzt von dem Gestaltungsrecht der Arglistanfechtung Gebrauch zu machen (Fortführung des Senatsurteils vom 28. Oktober 2009 -IV ZR 140/08).

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Bei Erhebung von Gesundheitsdaten durch den Versicherer ist zu prüfen, ob die Datenerhebung den Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Recht des Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung entspricht, sowie ob die Datenerhebung gegen § 213 VVG verstößt. Soweit ein Verstoß vorliegt, kann es dem Versicherer nach Treu und Glauben möglicherweise verwehrt sein, sich auf hierdurch gewonnenen Erkenntnisse zu berufen und deswegen den Vertrag wegen Arglist anzufechten.

Grundsätzlich ist die Erteilung allgemeiner, vom Einzelfall gelöster Schweigepflicht- entbindungen zulässig, unabhängig davon, ob sie vor Vertragsschluss oder später erfolgen. Jedoch darf der Versicherer im Rahmen seiner Leistungsprüfung dem Versicherten die Erklärung einer solchen allgemeinen Schweigepflichtentbindung nicht abverlangen, da der Versicherte gemäß § 31 Abs.1 VVG bei der Daten- erhebung nur insoweit mitzuwirken hat, als dies zur Prüfung des Leistungsfalles relevant ist.

Im Falle eines geringen Kenntnisstandes des Versicherers kann dies eine gestufte, einem Dialog vergleichbare Datenerhebung erforderlich werden lassen. In deren Rahmen haben sich die Erhebungen des Versicherers zunächst auf solche Infor- mationen zu beschränken, die ihm einen Überblick über die, zur Beurteilung des Versicherungsfalls, relevanten Umstände ermöglichen. Dies schließt auch Umstände zum vorvertraglichen Anzeigeverhaltens des Versicherten ein. Dementsprechend ist der Versicherte gehalten, nur insoweit inhaltlich begrenzte Schweigepflichtent- bindungen zu erklären, als das Erhebungsbegehren des Versicherers jeweils zulässigerweise reicht.

Jedoch ist es dem Versicherten unbenommen, zur Beschleunigung der Leistungs- prüfung, sogleich eine unbeschränkte Entbindungserklärung zu erteilen. Hierrüber und über die anderenfalls schrittweise zu erfüllende Obliegenheit hat ihn der Ver- sicherer eingangs der Erhebungen zu informieren.

Hat der Versicherer entgegen diesen Vorgaben gleichwohl verlangt, eine allgemeine Schweigepflichtent- bindung zu erklären, so ist, die auf dieser Grundlage durchge- führte Datenerhebung rechtswidrig, weil die wirksame Einwilligung der betroffenen Person im Sinne des § 213 Abs.1 Hs.2 VVG fehlte.

Kommt eine allgemeine Schweigepflichtentbindung dadurch zu Stande, dass der Versicherer diese verlangt, anstatt sie lediglich als Alternative zur anderenfalls schrittweise zu erfüllenden Mitwirkungsob- liegenheit anzubieten, liegt ein Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht vor. Das Einverständnis des Betroffenen, der nicht um die Begrenzung der ihn treffenden Mitwirkungsobliegen- heiten weiß und sich einem darüber hinaus reichenden Verlangen des Versicherers ausgesetzt sieht, ist nur scheinbar freiwillig, da ihm die freie Entscheidung über die ihm zustehenden Wahlmöglichkeiten zur keiner Zeit eröffnet worden sind.

Hat der Versicherte eine allgemeine Schweigepflichtentbindungserklärung erteilt, ohne dass der Versicherer dies verlangt hat, aber auch ohne vom Versicherer auf die Möglichkeit der schrittweisen Erteilung inhaltlich beschränkter Schweigepflichtent- bindungen hingewiesen worden zu sein, ist die Rechtmäßigkeit der hierauf be- ruhenden Datenerhebung darauf zu überprüfen, ob die weiteren Vorgaben des § 213 VVG beachtet wurden.

Der Versicherer hat dann vor Erhebung der Gesundheitsdaten den Versicherten hierüber zu unterrichten, sowie darauf hinzuweisen, dass er der Erhebung wider- sprechen kann. Zudem ist der Versicherer auf sein Recht hinzuweisen, jeder Zeit verlangen zu können, dass eine Datenerhebung nur erfolgt, wenn jeweils in die einzelne Erhebung eingewilligt worden ist.

Werden entsprechende Informationen im Fall einer freiwillig erklärten umfassenden Schweigepflichtentbindungserklärung nicht erteilt, sind die auf der Grundlage der allgemeinen Schweigepflichtentbindung durchgeführten Datenerhebungen gleichfalls rechtswidrig.

Soweit sich eine Datenerhebung durch den Versicherer als rechtswidrig darstellt, ist zu prüfen, ob der Versicherer nach § 242 BGB gehindert ist, sich auf das Ergebnis der rechtswidrigen Ermittlungen zu berufen.

Dabei führt nicht jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten des Versicherers zur Un- zulässigkeit der hierdurch ermöglichten Wahrnehmung seiner Rechte. Vielmehr kann nur ein zielgerichtetes, treuwidriges Handeln des Versicherers dazu führen, ihm die Ausnutzung seiner so gewonnen Rechtsstellung zu versagen.

Lässt sich ein zielgerichtetes, treuwidriges Handeln nicht feststellen, ist durch eine umfassende Abwägung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu entschei- den, ob und in wieweit dem Versicherer die Ausübung seiner Rechtsposition nach Treu und Glauben verwehrt sein soll.

Bei diesen Grundsätzen bleibt es auch nach in Kraft treten des § 213 VVG. Auch wenn § 213 VVG für den Fall einer rechtswidrigen Datenerhebung keine Sanktion regelt, lässt sich daraus nicht folgern, dass nach dem Willen des Gesetzgebers jeder Verstoß rechtlich folgenlos bleiben soll, noch dass eine Missachtung der rechtlichen Erfordernisse stets dazu führen muss, dass der Versicherer die von ihm gewonnenen Daten nicht verwenden dürfte.